Ruhigen Schlaf verbinden die meisten Menschen mit absoluter Stille. Doch manchmal trifft ein sanftes Schlaflied den richtigen Ton und sorgt für eine gute Nacht – und dann wird Franziska Weigert hellhörig. Als Musikwissenschaftlerin forscht sie zu den Themen Wiegenlieder sowie der gesundheitsfördernden Wirkung von Musik. Zudem organisiert sie die „Interdisziplinäre Tagung Schlafmusik/Sleep Music“ in Regensburg.
Als Expertin für das Thema Musik zum Einschlafen kann sie also erklären, wie Singen für süßen Schlummer sorgt – egal, ob bei Kindern oder bei Erwachsenen.
Wie hilft Musik beim Einschlafen?
Das ist leider nicht ganz leicht zu beantworten und sehr individuell. In einer Studie aus Großbritannien berichten Teilnehmer:innen davon, dass ihnen Musik beim Einschlafen hilft. Sie können sich dabei entspannen und haben einen Fokus-Punkt, der sie von Gedanken ablenkt. Musikhören verbessert ihre Stimmung oder schafft ein Einschlaf-Ritual, durch das sie automatisch müde werden, weil es über lange Zeit mit dem zu Bett gehen verbunden ist. Außerdem bietet Musik eine Ablenkung von Geräuschen und kann dadurch ein Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit vermitteln. In Kombination mit anderen Faktoren der Schlafhygiene, wie Temperatur, Tag-Nacht-Rhythmus oder Melatoninspiegel, kann Musikhören dann ein Einschlafen begünstigen – bei Kindern wie Erwachsenen. Musik hilft also eher indirekt beim Einschlafen. Im Gegensatz zu pharmakologischen Schlafmitteln dafür aber absolut nebenwirkungsfrei.
Welches Musik-Genre eignet sich am besten?
Das hängt ganz und gar vom persönlichen Geschmack ab. Musik, bei der wir uns entspannen können, ist normalerweise eng an Emotionen und Erinnerungen geknüpft. Uns hilft also am besten die Musik, die wir besonders mögen und bei der wir vom Tag abschalten können. Sie sollte jedoch nicht zu sehr stimulieren, also zum Beispiel zum Tanzen anregen. Die gerade schon erwähnte Studie zeigt, dass in diesem Kontext klassische Musik besonders beliebt ist, zum Beispiel Musik von Johann Sebastian Bach oder Wolfgang Amadeus Mozart.
Musik, Podcast oder Hörbuch – was schläfert am effektivsten ein?
Auch hier: Es hilft, was gefällt und nicht zu sehr anregt! Durch das Hören von Podcasts, Hörspielen oder Hörbüchern können wir uns ebenso gut ablenken und entspannen wie beim Musikhören.
Sie forschen intensiv zu Wiegenliedern. Was ist Ihr liebstes Lied?
Oh, das ist schwer, denn es gibt so unglaublich viele schöne Wiegenlieder. Deshalb muss ich mit mehreren Liedern antworten. Als Kind wurde mir immer das Sandmännchen von Johannes Brahms („Die Blümelein sie schlafen“) vorgesungen. Deshalb wird das für mich immer das prägendste Wiegenlied bleiben. Als Sängerin bin ich oft mit dem wunderschönen Abendsegen von Engelbert Humperdinck aus dessen Oper Hänsel und Gretel aufgetreten. Auch dieses Wiegenlied ist besonders für mich. Sie sehen schon, emotionale biographische Verknüpfungen sind auch für mich entscheidend!
Ansonsten mag ich sehr Wiegala von Ilse Weber, Mariä Wiegenlied von Max Reger, Des Baches Wiegenlied von Franz Schubert oder das Wiegenlied am Lager eines kranken Kindes von Robert Schumann. Alles absolute Hörempfehlungen. Ich schätze aber auch eher unkonventionelle Wiegenlieder wie A Charm of Lullabies des englischen Komponisten Benjamin Britten oder Vier Wiegenlieder (für Arbeitermütter) von Hanns Eisler und Bertolt Brecht.
Welche Merkmale haben Gute-Nacht-Lieder, die besonders gut beruhigen?
Diese Wirkung kommt aus einer Kombination aus musikalischen und stimmlichen Eigenschaften zustande. Musikalisch sind Wiegenlieder in unserer westlichen Musikkultur besonders dann beruhigend, wenn sie rhythmisch gleichmäßig gestaltet sind und zudem viele Strophen haben, wodurch die Melodie häufig wiederholt wird. Wenn man einem Kind vorsingt, passt man sich diesem in der Regel intuitiv an. Die Stimme bekommt einen lächelnden Unterton, wird weicher und gehauchter. Dies nennt sich infant directed singing. Studien zeigen, dass Kinder darauf stärker reagieren als auf an Erwachsene gerichteter Gesang. Diese Kombination aus musikalischen und stimmlichen Eigenschaften kann dann bewirken, das sich Kinder beruhigen und dadurch leichter einschlafen.
Ich treffe beim Singen kaum eine Note. Sollte ich meinen Kindern trotzdem abends vorsingen oder doch lieber vorlesen?
Auf jeden Fall! Singen beruhigt auch die Sängerin oder den Sänger, was sich dann über die sogenannte emotional contagion, also eine „emotionale Ansteckung“, auch auf das Kind überträgt. Außerdem sind Eltern die wichtigsten musikalischen Mentor:innen der Kinder. Durch frühen informellen Kontakt mit Musizieren steigt die Wahrscheinlichkeit, dass Kinder später selbst Musik machen wollen. Wenn man sich beim Vorsingen aber wirklich sehr unwohl fühlt, ist sicherlich ein anderes Einschlafritual besser. Regelmäßiges Vorlesen hat ähnliche einschlaffördernde Qualitäten wie Vorsingen: Stimme, Nähe und Ritual.
Was sind typische Inhalte von Wiegenliedern?
Da die meisten deutschsprachigen Wiegenlieder im 19. Jahrhundert entstanden sind, erzählen sie viel vom damaligen Kinderbild. Dies lässt sich zusammenfassen als „heile Kinderwelt“, in der Gefühle von Liebe und Sicherheit und eine starke Verbundenheit zur Mutter dominieren. Prominente Motive sind außerdem Gott und Engel, Sonne, Mond und Sterne, sowie Bienen, Schafe und Vögel. Die Inhalte von Wiegenliedern reagieren immer auf die äußeren Umstände, deshalb sprechen Wiegenlieder aus anderen Zeiten oder Kulturräumen wiederum ganz andere Inhalte an. Es gibt etwa zahlreiche Beispiele, die vom Kinds- oder Elterntod berichten, von Armut oder Überforderung, von Klassenkampf oder Krieg.
Haben Sie Empfehlungen für gute aktuelle Schlafmusik? Ganz egal, ob für Kinder oder Erwachsene.
Die Auswahl ist immens und die gängigen Streaming Dienste erleichtern uns den Zugang enorm. Ich plädiere aber dafür, nach Möglichkeit Kindern unbedingt selbst vorzusingen. Dabei ist das Was weniger entscheidend. Es darf auch gerne der eigene Lieblingssong aus der Jugend oder eine improvisierte Melodie sein, egal!
Bei Schlafmusik für Erwachsene ist vor allem wichtig, dass sie vom Grübeln abhält und ein schönes Ambiente schafft. Wer dafür noch nicht die richtige Routine gefunden hat, kann gerne „Ambiance Rooms“ auf YouTube ausprobieren. Dort wird eine Klangkulisse geschaffen, die sanften Jazz mit Kaminknistern und Regenprasseln verbindet. Enorm entspannend.
Was hört eine Musikwissenschaftlerin selbst zum Einschlafen?
Ich selbst höre bewusst mindestens eine Stunde vor dem Schlafen keine Musik mehr, da mein Kopf sonst nicht richtig abschaltet. Das ist leider ein Nachteil, wenn man sich hauptberuflich mit Musik beschäftigt: Ich höre normalerweise mit „Analyseohren“. Um leichter einzuschlafen, höre ich stattdessen Hörbücher, Hörspiele oder Podcasts. Je unaufgeregter diese sind, desto besser!
Herzlichen Dank an Franziska Weigert für das spannende Interview!